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34. Jahrgang InternetAusgabe 2000
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Thema: Asien 

 

Kernschmelze oder

Wiederaufstieg in Asien

Geleitwort zu reOrient für deutsche Leser nach dem Vorwort zur chinesischen Ausgabe

von Andre Gunder Frank (1. März 2000)

 

  Die letzte einschneidende Veränderung in Ostasien ist die 1997 ausgebrochene Finanz- und Wirtschaftskrise 1997, die offenbar von vielen Beobachtern im Westen mit Erleichterung aufgenommen wurde. Das Ergebnis sowohl der irreführenden Berichte der Tagesmedien als auch der kurzfristigen Analysen und Maßnahmen seitens der Wirtschaft und der Regierungen war, daß selbst die »informierte« öffentliche Meinung im Westen sich erneut drehte. Nun wurde behauptet, daß das »Ostasienwunder« nicht mehr als eine Fata Morgana gewesen sei, für manche ein Traum und für andere ein Alptraum. Die bis dahin gefundenen »Erklärungen« und treffsicheren Erfolgsstrategien werden genauso schnell wieder aufgegeben, wie sie in Mode gekommen waren. Keine Rede ist mehr von den »asiatischen Werten«, die »Magie des Marktes« bietet keine Garantie mehr und vom Staatskapitalismus ist auch keine Sicherheit mehr zu erwarten. Um so besser, würde ich sagen, denn diese vorgeblichen »Erklärungen« und »richtigen Maßnahmen« waren nie etwas anderes als ideologische Attrappen.

 Die historische Beweislage, die in diesem Buch vorgelegt wird, legt dar, daß der Erfolg (noch der Mißerfolg!) im Wettbewerb und ständigen Wandel des Weltmarktes keiner einzigartigen institutionellen Form oder Wirtschaftspolitik zugeschrieben werden kann. Alle Anzeichen in der Gegenwart zeigen dasselbe. In dieser Beziehung ist Deng Xiao Pings berühmter Aphorismus zutreffend. Die Frage ist nicht, ob Katzen institutionell, erst recht nicht ideologisch gesehen, schwarz oder weiß sind; die Frage in der wirklichen Welt ist, ob sie wirtschaftliche Mäuse im Wettbewerb mit anderen auf dem Weltmarkt fangen. Und dies hängt weniger von der institutionellen Farbe der Katze ab als von dem geeigneten Platz, an dem sie in der Weltwirtschaft am jeweiligen Ort und zur jeweiligen Zeit zum Sprung ansetzt. Und da die Hindernisse und Gelegenheiten in der Konkurrenz des Weltmarktes sich in Raum und Zeit immer wieder ändern, muß die wirtschaftliche Katze, gleich welcher Farbe, um Erfolg zu haben, sich diesen Veränderungen anpassen oder sie schafft es nicht, irgendwelche Mäuse zu fangen.

 Die Bedeutung von Stellung und flexiblem Reagieren in der Weltwirtschaft ist besonders wichtig während Zeiten wirtschaftlicher Krise, was auf Chinesisch (negativ) Gefahr und (positiv) Gelegenheit ist. In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise wurden die zweifellos ernsten negativen Folgen zu sehr in den Mittelpunkt gerückt; hingegen ist den Gelegenheiten, die sich dadurch bieten, nur unzulängliche Aufmerksamkeit zuteil geworden, außer vielleicht in den Vereinigten Staaten und China, die beide versuchen, Wettbewerbsvorteile aus den politisch-ökonomischen Problemen und der angeblichen »Kernschmelze« Japans, Koreas und Südostasiens zu ziehen.

 Doch die Nichtbeachtung der ostasiatischen, besonders der chinesischen ökonomischen Stärken und Aussichten, könnte verfrüht sein und beruht gewiß auf einer kurzsichtigen Vernachlässigung der historischen Belege, die in diesem Buch aufgeführt werden und führt auch zu einem gewichtigen Mißverständnis der gegenwärtig erkennbaren Hinweise. Ich glaube, daß das in letzter Zeit Kreise ziehende schnelle Fallenlassen Asiens aus den folgenden Gründen, neben anderen, fehlgeleitet ist:

 1) Weil Asien und China bis vor verhältnismäßig kurzer Zeit in der Welt wirtschaftlich mächtig waren, ist es sehr wohl möglich, daß sie bald wieder diese Stellung erlangen;
2) Chinesischer und asiatischer wirtschaftlicher Erfolg war in der geschichtlichen Vergangenheit nicht auf dem westlichen Modell gegründet; und der jüngste wirtschaftliche Erfolg in Asien war ebenso weitgehend nicht dem westlichen Modell geschuldet. Daher gibt es keinen stichhaltigen Grund, warum Chinesen oder andere Asiaten irgendein westliches oder anderes »Modell« kopieren sollten oder müßten. Sie können Ihre eigenen Wege finden und es gibt keinen guten Grund, sie jetzt durch irgendwelche westlichen zu ersetzen als vermeintlich einzigem Weg, der aus der derzeitigen Wirtschaftskrise herausführt. Im Gegenteil, ein Festhalten der Chinesen und anderer Asiaten an ihren anderen Wegen ist ein Zeichen von Stärke, nicht von Schwäche.

 3. Die Tatsache, daß die gegenwärtige Krise vom Finanzsektor in den Produktionssektor übergegriffen hat, bedeutet nicht, daß der letztere in den Grundlagen schwach wäre. Vielmehr ist die derzeitige Krise der Überproduktion und Überkapazitäten ein Beleg für die grundlegende Stärke des Produktionssektors, der sich erholen kann.
4. Wirtschaftsrezessionen werden und können in Zukunft nicht verhindert werden – sie sind auch in der Vergangenheit nicht einmal unter der Staats-»Planung« in China oder der Sowjetunion verhindert worden. Bezeichnender ist, daß zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrhundert eine Weltrezession nicht im Westen begonnen hat und dann ostwärts wanderte, sondern daß sie stattdessen im Osten begann und nun nach Westen weiterzieht. Diese Rezession kann daher als ein Hinweis nicht so sehr auf die derzeitige Schwäche als vielmehr auf die wachsende Stärke der wirtschaftlichen Grundlage Ostasiens verstanden werden; eben dorthin, wo es einst vor dem Aufstieg des Westens seinen Schwerpunkt hatte, bewegt sich das Gravitätszentrum der Weltwirtschaft allmählich zurück.
5) Auf der Grundlage dieser politisch-ökonomischen Stärke befinden sich sowohl China als auch Japan in ihrer Entwicklung in einer vorteilhafteren Position als der Rest der »Dritten Welt« oder sogar Rußland und Osteuropa, um westlichen Erpressungen, die seitens des US-Finanzministeriums mittels des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank, der Welthandelsorganisation, der Wall Street und anderer Werkzeuge ausgeübt werden, Widerstand entgegenzusetzen.

  6) Die Tatsache selbst und die Kosten von Zugeständnissen Ostasiens gegenüber diesem Druck des Westens während der derzeitigen Rezession machen es politisch umso wahrscheinlicher, weil ökonomisch möglich, daß Ostasien Maßnahmen ergreifen wird, worunter vorrangig die Bildung eines neuen Finanz- und Währungsblocks und neuer Bankeinrichtungen stehen werden, durch die eine Wiederkehr der gegenwärtigen Situation in der Zukunft vermieden werden könnte, um so dem Zugriff der vom Westen kontrollierten Kapitalmärkte zu entgehen.

 7) In der Tat handelt es sich bei einem der derzeit andauernden Gefechte, erst nur der Japaner, nun auch der Chinesen, darum, die Weltfinanz- und Handelseinrichtungen neu und anders zu gestalten, als sie von den Vereinigten Staaten zu ihrem Vorteil entworfen worden sind. Daher wollte Japan einen Asiatischen Währungsfonds errichten, um ein Abgleiten in eine tiefergehende Rezession zu verhindern, wie sie nun dank dem IWF, der in Washington ansäßig und Washington dienstbar ist, doch heraufbeschworen worden ist. China wiederum wünscht der Welthandelsorganisation beizutreten, ist aber bestrebt, diese vom Westen dominierte Organisation einer Reform zu seinen Gunsten unterziehen zu lassen.

 8) Ein damit zusammenhängender wirtschaftlicher Kampf ist die Konkurrenz der Vereinigten Staaten und Chinas, um Japan, Korea und Südostasien aus ihrer Marktstellung zu drängen, indem sie zu Nutznießern der Banken- und Unternehmensbankrotte dieser Länder werden. Das amerikanisches Ziel ist es dabei, Produktivkapazitäten in Ostasien zu Schleuderpreisen aufzukaufen, während China auf seine Stunde wartet, bis diese Unternehmen gänzlich aus dem Markt gedrängt werden, wenn sie sich nicht in Gemeinschaftsunternehmungen wiederfinden. Nur mit der Zeit wird sich klären, welche Strategie sich als die erfolgreichere erweist, aber die Chinesen und vielleicht andere Südostasiaten scheinen auf lange Sicht die besseren Karten zu haben.

 9) Gleichermaßen ist von Bedeutung, daß China und Indien in der Substanz gegen die gegenwärtige Rezession immun geblieben sind, im wesentlichen dank der Nichtkonvertibilität ihrer Währungen Renminbi und Rupie und der Sicherheitsvorkehrung für ihre Kapitalmärkte, in denen der Zufluß von Kapital erlaubt, der Abfluß von Kapital aber kontrolliert wird. Die Währungsabwertungen der Konkurrenten Chinas im übrigen Ostasien und der verringerte Mittelzufluß aus Japan und von den Auslandschinesen nach China als Folgen der Rezession in Ostasien könnten China zur Abwertung zwingen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Nichtsdestoweniger scheint die chinesische Wirtschaft in Hinsicht auf Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit stark genug geworden zu sein und bleiben zu können, um diesen Problemen gegenüber standzuhalten und sie zu bewältigen.

 Es muß bemerkt werden, daß die wirtschaftlich dynamischsten Regionen heute nahezu dieselben sind wie vor 1800:

 1) Um das Nordchinesiche Meer herum die Viereckshandelsbeziehungen zwischen Nordostchina, Sibirien/Russisch-Fernost, Korea und Japan; 2) im Süden Lingnan, inmitten des Korridors von Hongkong-Guanzhou, und Fujian mit seinem Mittelpunkt immer noch um Amoy/Xiamen, aber mit dem Blick auf die Straße von Taiwan und dem Handel herunter nach Südostasien im Südchinesischen Meer; und dazwischen das Yangtse-Tal, gruppiert um Shanghai und ausgerichtet auf den Handel mit Japan, das sich erneut in führender Stellung von den südlichen und nördlichen Regionen wegzubewegen beginnt. All diese Gebiete wiederum waren und sind noch oder wieder in zunehmendem Maße wichtige Segmente des Welthandels und der globalen Ökonomie. In diesem Sinne auch und obwohl ihre Geschichte um 1800 endete, zeigt die Untersuchung der Weltwirtschaft und der überragenden Stellung, die China darin einst einnahm, die fundamentalen Grundlagen der zeitgenössischen ökonomischen Entwicklungen in der Region auf und deutet auf wichtige weltwirtschaftliche Entwicklungen in der voraussehbaren Zukunft hin.