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34. Jahrgang InternetAusgabe 2000
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Eurozentrismus

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Die eurozentrische Liste

Vom Abonnement bis zum Zylinderschloß

Von Hans Magnus Enzensberger

(Eine beinahe der von Oscar Schindler nachempfundene Liste in Bilder und Zeiten der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06. Januar 2001)

 

 Ein Fluch- und Donnerwort: Eurozentrismus! Es bezeichnet bekanntlich eine durch und durch verwerfliche Denkungsart. Die politische Korrektheit, ihrerseits vielleicht nicht mehr ganz in ihrer höchsten Blüte, hat mit Vorwürfen an unsere Adresse nicht gespart. Leute, die Europa nach wie vor für den Nabel der Welt halten, sind aber inzwischen so selten geworden, daß man sie nicht mehr zu bekämpfen braucht, sondern erwägen sollte, ob sie nicht unter Artenschutz zu stellen wären.

 Wer sich gelegentlich auf anderen Kontinenten umsieht, wird jedoch auf Spuren und Nachahmungseffekte stoßen, die so selbstverständlich anmuten, daß sie niemandem mehr aufzufallen scheinen. Verrät es koloniales Denken oder gar imperialistische Neigungen, wenn man ihnen ein stilles Gedenken vergönnt? Das glaube ich kaum. Die folgende Liste verzeichnet nicht nur die Luftmatratze, das Nachthemd und den Kindergarten, sondern auch Heroin, Giftgas und Konzentrationslager.

 Das hauptsächliche Kriterium für die Aufnahme in dieses Verzeichnis – das sich natürlich über Seiten hinweg verlängern ließe – ist die Verbreitung über alle Kulturgrenzen hinweg. Kaum einer, der sich in China oder Ghana eine Krawatte umbindet, wird ihrer Herkunft gedenken, und uns selber ist die Attitüde des Urhebers oder Erfinders längst abhanden gekommen. Ein flüchtiges Andenken, das ohne Rührung auskommt, ist vielleicht erlaubt oder sogar angebracht. Nicht nur Verhängnisse hat Europa über die Welt gebracht, sondern auch so willkommene Gaben wie den Badeanzug und die BrezeL

 Um Patentstreitigkeiten soll es dabei nicht gehen, In vielen Fällen fällt es schwer, die Priorität einer Erfindung exakt zu bestimmen – wer wollte im Ernst versichern, wem das erste Bett zu verdanken ist? In Zweifelsfällen gebe ich, statt mich mit ihm zu duellieren, jedem Rechthaber von vornherein recht. Die eurozentrische Liste soll nicht der Wissenschaft, sondern der Nachdenklichkeit und dem Vergnügen dienen. Sie gewährt einen Rückblick auf ein paar Jahrhunderte, mit ungewisser Aussicht auf das neue Millennium, das bekanntlich nach dem Gregorianischen Kalender – der seinerseits einen Ehrenplatz in unserer Liste einnimmt – am 1. Januar 2001 begonnen hat: auch dies ein Fall für Rechthaber. Eingeführt anno 1582, war er nicht überall gleich willkommen. Glarus, Appenzell und ein Teil von Graubünden hielten bis 1798 zäh am hergebrachten Julianischen Kalender fest, und die Rumänen haben sich erst 1924 zähneknirschend der neuen Zeitrechnung angeschlossen. Die Oktoberrevolution, auch sie ein berühmter europäischer Exportartikel, hat, genaugenommen, im November 1917 stattgefunden. Und so weiter. Wie genau man es aber damit und mit manchen anderen Dingen nehmen sollte, das scheint mir fraglich.

 Gewiß hat der bizarre historische Erfolg unserer Halbinsel auch damit zu tun, daß ihre Bewohner eine Neigung zur Präzision entwickelt haben, die zuweilen, aber weiß Gott nicht immer, segensreich war. Wie dem auch sei, die gern und oft erhobene Frage, was eigentlich das Europäische an Europa ist, läßt sich vielleicht am leichtesten beantworten, wenn man den Blick von außen auf diesen Erdteil richtet und danach fragt, was andere an seinen Hervorbringungen, zu ihrem Heil oder Unheil, für brauchbar gehalten haben.