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34. Jahrgang InternetAusgabe 2000
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Hitlers Wiedergänger


Hans Magnus Enzensberger über Saddam Hussein im Spiegel der deutschen Geschichte (Nr. 6, 04.02.1991):

  Als Adolf Hitler am 30. April 1945 in seinem Bunker verendete, glaubten die meisten Überlebenden an die Einmaligkeit einer Figur, die keinen Vergleich mit anderen Gewalttätern der Geschichte zuzulassen schien. Diese Überzeugung, in der das Entsetzen sich mit der Hoffnung paarte, hat sich als Illusion erwiesen. Hitler war nicht einzigartig. Solange Millionen von Menschen seine Wiederkehr leidenschaftlich herbeisehnen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis dieser Wunsch in Erfüllung geht.

 Die Nachkriegszeit hat mit guten Gründen auf der Singularität der deutschen Verbrechen bestanden und jeden Vergleich mit anderen Beispielen staatlichen Terrors tabuisiert. Allzuoft dienten solche Parallelen nur dem Zweck, die Täter zu entlasten. Insofern schien das Denkverbot sinnvoll, wenngleich es letzten Endes nur moralisch, nicht aber intellektuell begründet werden kann; denn natürlich ist jeder Versuch, historische Vorgänge zu verstehen, auf die Erfahrung – und das heißt: auf den Vergleich – angewiesen. Dort, wo substantielle Ähnlichkeiten vorliegen, ist er nicht nur erlaubt, sondern geboten. Ich möchte versuchen zu zeigen, daß die Rede von Saddam Hussein als einem Nachfolger Hitlers keine journalistische Metapher, keine propagandistische Ubertreibung ist, sondern das Wesen der Sache trifft.

  Man wird dem Führer des Irak nicht gerecht, man unterschätzt seine Gefährlichkeit, wenn man in ihm nur einen traditionellen Despoten oder einen modernen Diktator sieht. Im Unterschied zu Figuren wie Franco, Batista, Marcos, Pinochet und einem halben Hundert Ihresgleichen, die heute noch in aller Welt an der Macht sind, hat es Saddam Hussein nicht nur darauf abgesehen, ein Volk zu unterdrücken, zu beherrschen, auszubeuten und den Genuß, der darin liegt, so lange wie möglich auszukosten. Alleinherrscher dieser Sorte gehören zum Repertoire der Geschichte, ja man ist versucht zu sagen, zur Normalität der Staatenwelt, so wie wir sie kennen. Diese Monster geben keine Rätsel auf. Sie lassen sich von ihrem Selbsterhaltungstrieb leiten. Insofern gehorcht ihr Vorgehen einem Interessenkalkül, und das macht sie ihrerseits kalkulierbar.

 Hitler wußte sich von solchen Überlegungen frei. Eben hierin ist Saddam Hussein sein genuiner Nachfolger. Er kämpft nicht gegen den einen oder anderen innen- oder außenpolitischen Gegner; sein Feind ist die Welt. Die Entschlossenheit zur Aggression ist der primäre Antrieb; Objekte, Anlässe, Gründe werden gesucht, wo sie sich finden. Wer bei der Vernichtung zuerst an die Reihe kommt, ob Iraner oder Kurden, Saudis oder Palästinenser, Kuweitis oder Israelis, hängt nur von den Gelegenheiten ab, die sich bieten. Auch dem eigenen Volk ist dabei keine Sonderstellung zugedacht; seine Vernichtung ist nur der letzte Akt der Mission, zu der sich Saddam berufen fühlt. Der Todeswunsch ist sein Motiv, sein Modus der Herrschaft ist der Untergang. Diesem Ziel dienen alle seine Handlungen. Der Rest ist Planung und Organisation. Er selbst wünscht sich nur das Privileg, als letzter zu sterben.

 Die Parallele zu Hitler ist evident. Auch dem deutschen Führer ging es nicht darum, den einen oder anderen inneren oder äußeren Gegner zu besiegen. Er war nicht nur der Todfeind der Juden, der Tschechen, der Polen, der Engländer, der Franzosen, der Niederländer, Belgier, Skandinavier, der Balkanvölker, der Russen und der Amerikaner, sondern letzten Endes auch der Deutschen. Nennen wir ihn also, ohne dämonisierende Absicht und eher deskriptiv, einen Feind des Menschengeschlechts. Die obszönen Bilder, auf denen Saddam sich zeigt, wie er Kinder tätschelt, die er zu seinen Geiseln gemacht hat, gleichen bis in das letzte Detail der Körpersprache jenen, die 50 Jahre davor auf dem Obersalzberg entstanden sind.

 Für sich genommen, als isoliertes Subjekt, ist der Feind des Menschengeschlechts eine banale, man ist versucht zu sagen: unauffällige Erscheinung. Wir werden nie erfahren, wie viele seinesgleichen unter uns leben, als gescheiterte Künstler oder wirre Amokschützen, in der nächsten Querstraße oder im entlegensten Dschungeldorf. In die Geschichte kann ein Hitler, ein Saddam nur dadurch eintreten, daß ganze Völker ihr Kommen herbeiwünschen. Ihre Macht wächst nicht aus den Gewehrläufen, sondern aus der grenzenlosen Liebe und Opferbereitschaft ihrer Anhänger.

 Jeder Vergleich zwischen Hitler und Saddam zieht somit notwendigerweise einen zweiten nach sich zwischen den Massen, die sich dem einen und dem andern als Schlächter und Schlachtopfer zur Verfügung stellen. »Die Deutschen waren die Irakis von 1938 bis 1945.« Daß dieser Rückschluß von keiner Bild-Zeitung gezogen wird, obgleich er nicht nur die Logik auf seiner Seite hat, sondern die innere Dynamik des Golfkriegs blitzartig erleuchten könnte, ist nur allzu begreiflich. Nichts könnte den Deutschen von heute ferner liegen, als sich in den arabischen Massen wiederzuerkennen. Eine solche Einsicht würde jeder rassistischen Deutung des Konflikts den Boden entziehen. Außerdem brächte sie verborgene Kontinuitäten ans Licht, Restbestände des Faschismus, an die niemand erinnert werden möchte. Die deutsche Industrie hat die hingebungsvollen Dienste, die sie Adolf Hitler geleistet hat, nie zu bereuen gehabt: daß sie seinem Nachfolger mit demselben Eifer zu Hilfe eilt, ist daher nur konsequent. Und wenn ein erheblicher Teil der deutschen Jugend sich eher mit den Palästinensern identifiziert als mit den Israelis, wenn sie ihren Protest lieber gegen George Bush als gegen Saddam Hussein richtet, so ist das mit Ahnungslosigkeit kaum zu erklären.

 Von seinen Erfahrungen her dürfte kein Volk so qualifiziert sein wie das deutsche, das zu verstehen, was heute in der arabischen Welt geschieht. Jedes zweite Interview, das zwischen Rabat und Bagdad gemacht wird, müßte ihm wie ein Echo seiner eigenen Stimme in den Ohren dröhnen. »Wir wollen weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt.« Das Ausradieren der Städte, der fanatische Haß, das »gigantischste Ringen aller Zeiten«; Endkampf, Endsieg: Wer erinnert sich nicht an den frenetischen Jubel, mit dem diese Parolen aufgenommen worden sind und mit dem Tausende die berühmte Frage beantwortet haben: »Wollt ihr den totalen Krieg?«

  Was die Deutschen begeisterte, war nicht allein die Lizenz zum Töten, sondern mehr noch die Aussicht darauf, selbst getötet zu werden. Ebenso inbrünstig äußern heute Millionen von Arabern den Wunsch, für Saddam zu sterben. »Unser Volk will das Gas Saddam Husseins riechen und sterben«, äußerte sich Assad el-Tamini, ein palästinensischer Moslemprediger in Jordanien. Der Führer wird alles tun, was in seiner Macht steht, um seinen Anhängern diesen Wunsch zu erfüllen. »Das deutsche Volk ist es nicht wert, zu überleben«, sagte Hitler am Ende seiner Laufbahn. Ebenso denkt Saddam von den Seinen.

 An den Deutschen hat es nicht gelegen, daB Hitler sein Programm nicht zu Ende führen konnte. Die Energie von Führer und Geführten hat zu unvorstellbaren Verbrechen gereicht und dazu, Europa in ein Trümmerfeld zu verwandeln. Doch trotz ihrer Entschlossenheit, auch noch den letzten Pimpf ins Feuer zu schicken, sind nicht nur die alliierten Sieger, sondern auch die Deutschen übriggeblieben.

 Die Nachwelt war jahrzehntelang damit beschäftigt, sich das Verhalten der Deutschen zu erklären. Eine ganze Generation von Gelehrten hat sich bemüht, Hitler und die Folgen auf ihren historischen Sonderweg, ihren eigentümlichen Charakter, ihre vermeintlich anders geartete Kultur zurückzuführen. Man erinnert sich an die hilflosen Versuche der Historiker, das Unerklärliche in den Taten von Königen und Kanzlern oder im Denken Nietzsches, Wagners und Luthers dingfest zu machen.

 Heute treten Nahostkenner und Orientalisten mit ähnlichen Argumenten auf den Plan. Man habe es im Nahen Osten mit etwas schlechthin Anderem zu tun, mit einer völlig unvergleichbaren Kultur, einer Mentalität, die es zu entschlüsseln gelte, und mit religiösen Voraussetzungen, von denen sich die ignorante Außenwelt gar keinen Begriff mache.

 Das sind beruhigende Hypothesen: denn sie erwecken den Eindruck, als wäre das Problem ohne weiteres zu lokalisieren. Ließe sich der Todesrausch Hitlers und seiner Anhänger schlichtweg auf irgendeine Eigentümlichkeit der Deutschen reduzieren, so hätte es genügt, einen Cordon sanitaire um ihr Territorium zu legen und sie einer immerwährenden Kontrolle zu unterwerfen, und schon hätte der Rest der Welt bis ans Ende der Zeiten unbehelligt leben können. Ebenso brauchte man nur mit Saddam und den Seinen zu verfahren, wäre die Entschlossenheit zum Genozid eine kulturelle oder religiöse Spezialität der Irakis. Es ist an der Zeit, sich von solchen Illusionen ein für allemal zu verabschieden. Der neue Feind der Menschheit verhält sich nicht anders als sein Vorgänger. Ungeachtet ihrer ganz verschiedenen Voraussetzungen sind die Regungen seiner Verehrer mit denen unserer Väter und Großväter identisch, und sie verfolgen das gleiche Ziel. Dieses Fortleben beweist, daß wir es nicht mit einer deutschen, nicht mit einer arabischen, sondern mit einer anthropologischen Tatsache zu tun haben.

 Damit ist nicht gesagt, daß der Feind der Menschheit unter beliebigen Umständen, plötzlich, voraussetzungslos aus dem Dunkel auftauchen könnte. Die Bedingung dafür, daß er Anhänger findet, die sich nach dem Untergang sehnen, ist das Gefühl einer lang andauernden kollektiven Kränkung, die das Selbstwertgefühl von Millionen bis auf den Grund zersetzt. Auch unter diesem Gesichtspunkt könnten sich die Deutschen, wenn sie ein besseres Gedächtnis hätten, in den Arabern wiedererkennen.

  Norbert Elias hat in seinen »Studien über die Deutschen« dargelegt, wie und aus welchen Gründen sich dieses Volk, spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg, als ewiger Verlierer fühlte. Virulent wurde das Gefühl der Demütigung nach dem Versailler Vertrag, zur alles beherrschenden Obsession in der Weltwirtschaftskrise von 1929. Die Parallele zu den Völkern des Nahen Ostens liegt auf der Hand. Wenn ein Kollektiv keine Chance mehr sieht, seine – reale und imaginäre – Erniedrigung durch eigene Anstrengungen wettzumachen, bietet es seine ganze psychische Energie auf, um unermeßliche Vorräte an Haß und Neid, Ressentiment und Rachsucht anzulegen. Es fühlt sich als Spielball und Opfer der Verhältnisse und leugnet jede eigene Mitverantwortung für die Lage, in der es sich befindet. Die Suche nach dem Schuldigen kann beginnen. Dann ist die Stunde des Führers gekommen. Der Feind der Menschheit kann sich mit der gesammelten Todesenergie der Massen aufladen. Er wird dabei eine Fähigkeit an den Tag legen. die an das Geniale grenzt: den unfehlbaren Spürsinn für die unbewußten Regungen seiner Anhänger. Deshalb operiert er nicht mit Argumenten, sondern mit Emotionen, die jede Logik aus den Angeln heben.

 Daran scheitern alle Versuche, ihn ideologisch zu interpretieren oder gar zu widerlegen. Sein Projekt wird nicht durch Ideen, sondern durch Obsessionen vorangetrieben. Die Vorstellungen, die er ausbeutet, sind um so mächtiger, je näher sie dem Wahne stehen. Die Paranoia, die sich reale Vorgänge nur durch Verschwörung und Verrat erklären kann, ist somit keine individuelle Krankheit des Führers, sondern die Voraussetzung seines Agierens und des Echos, das er findet. Dafür ist der Judenhaß das ideale Vehikel, ein Gefühl, das Hitler und seine Anhänger ebenso verzehrte wie ihre heutigen Nachfolger.

  Im übrigen muß der Feind der Menschheit von seiner Gefolgschaft alles fernhalten, was an einen Gedanken erinnert. Er erzeugt ein intellektuelles Vakuum, das sich dann mit beliebigen Versatzstücken aus der jeweiligen Tradition auffüllen läßt. So hat Hitler deutschnationale und antikapitalistische Stimmungen ausgebeutet und von Germanentum und Blut und Boden schwadroniert, während Saddam antikoloniale, panarabische und islamische Motive bevorzugt. Die ideologischen Attrappen sind beliebig austauschbar. Inhalte sind dem Führer gleichgültig. Das erlaubt ihm auch, seine Feinde jederzeit zu wechseln. Hitler konnte den Bolschewismus zum Todfeind, zum Verbündeten und wieder zum Todfeind erklären, ohne daß ihm das in den Augen seiner Anhänger geschadet hätte. Für Saddam war der achtjährige Angriffskrieg gegen den Iran, der vermutlich eine Million Menschen das Leben gekostet hat, eine folgenlose Bagatelle; nichts käme ihm gelegener als eine brüderliche Allianz mit Teheran.

 Es ist ein fataler Irrtum, Hitler oder Saddam Überzeugungen zuzuschreiben. Die Tradition kommt für sie nur als Sprengstoffdepot in Betracht. Der Runenzauber des einen wie der Gebetsteppich des andern hat viele Zeitgenossen dazu verleitet, in ihrem Vorhaben etwas Atavistisches zu sehen, einen »Rückfall« ins vermeintliche Mittelalter oder in die Barbarei irgendeiner Vorzeit. Das ist eine gefährliche Verkennung. Der Feind des Menschengeschlechts ist eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts, ebenso fortschrittlich wie die Medien, die Gase und die Raketen, die er anwendet, um sein Ziel zu erreichen.

 Die Pazifisten haben recht, wenn sie sagen, angesichts von Saddam Hussein habe die Politik versagt. Das war im Falle Hitlers nicht anders. Damals wie heute hat die Welt lange Zeit nicht begreifen wollen, womit sie konfrontiert war. Hitler galt in den Kanzleien des Auslandes als ein Staatsmann, der »berechtigte Anliegen« vertrat, dem man entgegenkommen, mit dem man verhandeln müsse. Den Siegermächten des Ersten Weltkriegs war er willkommen als »Ordnungsfaktor«, als Geschäftspartner, als Gegengewicht gegen die sowjetische Drohung: mit anderen Worten, man begegnete ihm mit den normalen Mitteln der Politik und vertraute darauf, daß es um Interessenkonflikte ging, die es zu lösen galt.

 Ein solches Verhalten setzt aber stillschweigend voraus, daß alle Beteiligten an ihrem Überleben interessiert sind. Mit dieser Vermutung hat die Welt Hitler gründlich verkannt. Er allein wußte, was er wollte: ein Ende mit Schrecken. Was der Außenwelt als Realitätsverlust erschien, war nur die Entschlossenheit, dieses Ziel mit allen Mitteln zu verfolgen. Daher konnte Hitler die Bereitschaft, zu verhandeln, nur als Schwäche deuten: die Idee der Gegenseitigkeit war ihm unverständlich; Kompromisse erfüllten ihn mit Ekel, vertragliche Lösungen mit Verachtung; und auf Konzessionen reagierte er, da sie ihn bei der Verfolgung seines Endzieles störten, mit Wut.

 Keine denkbare Politik, wie klug, wie umsichtig sie auch wäre, kann es mit einem solchen Feind aufnehmen. Er bekommt am Ende immer, was er will: den Krieg. Darin, daß es ihm gelingt, die ganze Welt, seine Anhänger nicht ausgenommen, als Geisel zu nehmen, liegt sein Triumph. Noch im eigenen Krepieren wird ihm der Genuß zuteil, daß er Millionen dazu gebracht hat, vor ihm zu sterben.

 Die Beseitigung Hitlers hat ungezählte Menschen das Leben gekostet. Der Preis für die Entfernung Saddam Husseins von der Erdoberfläche wird astronomisch sein, auch wenn ihm die Erfüllung des Wunsches, einen Atomkrieg zu entfesseln, vielleicht um Haaresbreite versagt bleiben wird.

 Seine Nachfolger dürften unter dieser Beschränkung ihrer Handlungsfreiheit kaum zu leiden haben. Es ist absehbar, daß in Zukunft andere Völker ihren und unsern Henkern zujubeln werden. Ewige Verlierer gibt es in allen Himmelsrichtungen. Unter ihnen nimmt das Gefühl der Demütigung und die Neigung zum kollektiven Selbstmord mit jedem Jahr zu. Auf dem indischen Subkontinent und in der Sowjetunion liegt dafür das nukleare Arsenal bereit. Woran Hitler und Saddam gescheitert sind, am Endsieg, das heißt, an der Endlösung – ihrem nächsten Wiedergänger könnte sie gelingen.